Atlas der Ruhe

    Chapter 1 of 2

    Die Frist des Berges

    Der Hang war nicht laut, wenn er atmete. Er knirschte. Ein feines, trockenes Geräusch, als ob jemand eine Handvoll Salz über Stein streute. Leila Samar kniete am Rand des Kapellenwegs, die kleine Schraube eines Messpunkts zwischen Finger und Daumen, und lauschte, bevor sie das Gerät einschaltete. Unter ihren Stiefeln vibrierte eine Geduld, die älter war als jede Frist. Sie hatte die Metallstange vor zwei Tagen gesetzt, auf Höhe der Hainbuchenreihe, die die obere Kante des Friedhofs säumte. Die Kapellenwand lag schräg im Rücken, weiß wie ein Atemzug. Qamar stand einen halben Meter hinter ihr und hielt die Wasserwaage, als trüge er eine Pflanze in der Hand, die nicht erschrecken durfte. "Er ist weicher als gestern", sagte Qamar. Er sprach leise, als spräche er mit der Erde. Sein Blick folgte einem Riss, der sich im Winter geöffnet und im Frühling wieder geschlossen hatte, als hätte man eine Narbe mit Moos zugenäht. Leila nickte. Ihre Daten waren nüchtern, Zahlenreihen auf dem Display, Millimeter pro Stunde. Sie war es gewohnt, zwischen den Rhythmen eines Berges und dem Takt einer Gemeinde zu übersetzen. Heute bedeutete die Zahl auf dem Bildschirm: Es reichte nicht mehr, die Zeit zu dehnen. "Ich gehe einen Schritt zurück", sagte sie und tat es, bevor sie die Wasserwaage übernahm. Ein Kiesel löste sich, dann noch einer. Der Kapellenweg, er war eigentlich ein schmaler Faden durch den Hang, gesäumt von Eisenstangen mit losem Seil, als ob man nur zeigen wollte, wo der Himmel anfangen sollte. Ein Fink flog auf, als eine Handvoll Erde nachrutschte. Qamar hob den Blick, Leila folgte. Die obere Reihe der Holzkreuze stand unauffällig schief, wie sonst auch nach einem Winter. Und doch suchte Leila nach einer neuen Linie, einer, die gestern noch nicht da gewesen war. Das Telefon vibrierte in der Jackentasche. Maja Casparis. Leila wischte die Erde von den Fingern, ohne wirklich sauber zu werden, und nahm ab. "Ja?" "Wir sind gleich so weit, Leila", sagte Maja. Ihr Tonfall war ruhig und auf dem Punkt. "Die Versammlung beginnt um sieben. Gibt es etwas, das ich jetzt schon sagen sollte?" "Sagen Sie, dass der Oberhang auf vierzehn Millimeter gekommen ist. Und dass die Front tiefer nachgibt. Es ist nicht dramatisch in Sekunden, aber dringlich in Tagen." "Gut. Der Kanton will die Frist in der Sitzung nennen. Sie stellen Ihre Karte vor?" "Ja. Ich bringe den Ausdruck mit. Ich komme direkt von hier." Leila legte auf und steckte das Telefon zurück, als der Hang noch einmal die Schultern hob. Kein großer Rutsch, nicht das, was Reporter wollten. Mehr ein Nicken. Der Friedhof war alt, er hatte Genügsamkeit gelernt, aber seine Kante wurde scharf. Qamar sah zu ihr. Sie sah zu Qamar. "Wir markieren heute noch zwei Punkte", sagte Leila. "Ich besorge die Farbe", antwortete Qamar. Er trug immer eine Rolle Band in der Tasche, rotes, reflektierendes Band, das von weitem wie eine Warnung wirkte und von nahem wie eine Geste. Er zog ein Stück ab und wickelte es um einen dürren Pfahl. Der Nachmittag zog sich zwischen Schatten und Steinschlag. Als die Glocke der Kapelle sechs schlug, rutschte ein faustgroßer Brocken über den Weg und blieb am Seil hängen. Leila nahm ihn auf, drehte ihn in der Hand und legte ihn oberhalb eines kleinen Grases ab, das seinen Platz noch brauchte. Dann packte sie die Karte ein, ein laminiertes Blatt mit Linien, die aussahen wie Adern. Qamar strich über die Oberfläche der frischen Erde, als ließe sich etwas beruhigen durch Berührung. Im Gemeindehaus roch es nach Bohnerwachs und abgestelltem Regen. Maja Casparis prüfte zum dritten Mal die Stuhlrückenreihen, die exakt gerade standen. Links von ihr lehnten die ausgedruckten Traktanden an einer Kante, rechts zwei Karaffen Wasser. Auf dem Tisch lag der Brief vom Kanton, in dessen nüchterner Sprache Worte wie Verhältnismäßigkeit und Haftung nebeneinander standen, als hätten sie schon immer zusammengehört. Maja war 49. Sie hatte gelernt, dass Ordnung nicht dieselbe war wie Stille und doch manchmal die einzige Brücke dorthin. "Maja?" Reto Lüthi stand in der Tür, die Hand am Rahmen, als habe er Respekt vor dem Raum. Er war ein Mann, der Lichter ausschalten konnte, ohne Geräusche zu machen. Bestatter der Gemeinde, 38, Sorgfalt in Haltung und Stimme. Unter dem Arm trug er eine Ledermappe, so abgegriffen, dass sie an einer Ecke einen helleren Fleck hatte, dort, wo unzählige Daumen geglitten waren. "Reto. Danke, dass du die Nummerierung der Gräber noch einmal durchgesehen hast." "Das Register ist bereit", sagte er und setzte sich nicht. "Ich habe die Listen gedruckt, falls jemand wissen will, wo..." Er stockte. Maja hob den Blick. Zwischen ihnen lag keine große Freundschaft, aber ein Rhythmus, der funktionierte. "Wenn jemand wissen will, wo was hinkommt?" "Wer betroffen ist, ja. Und ich werde dabei sein, wenn..." Er ließ den Satz offen. Maja nickte. Beide wussten, dass Worte für das, was kommen sollte, selten trafen. Exhumation. Umsetzung. Bewahrung. Und doch war das ihr Vokabular heute. Die Reihen füllten sich, Stimmen wurden zu Geräusch, das Geräusch zu einem Boden. Noé saß in der dritten Reihe, leicht seitlich, damit er den Ausgang und die Wand mit dem Zeitungsbrett sehen konnte. Er hatte ein Notizbuch auf dem Knie, kariert, und einen Bleistift, der schon so oft gespitzt worden war, dass er beim Schreiben am Zeigefinger eine glänzende Stelle hinterließ. Er war elf und zeichnete, was andere übergingen: Die Abstände zwischen Menschen, die unsichtbaren Wege, die Blicke, die Gräber verbanden. In sein Heft schrieb er: Atlas der Ruhe. Die Linien, die er zog, waren keine Straßen, sondern Pausen. "Wir beginnen", sagte Maja, als die Uhr im Raum auf sieben stand. Sie stand gerade, damit niemand sagen konnte, sie habe gewankt. "Ich bitte um Aufmerksamkeit. Traktandum eins: Information zur Rutschgefahr am Südhang, Kapellenweg und Friedhof. Der Kanton hat eine Frist gesetzt, die wir heute hören werden. Frau Leila Samar, Geologin, gibt uns eine Lageeinschätzung." Leila stellte das laminiert Blatt auf den Staffelei-Ständer, der sonst für Kindergartenzeichnungen diente. Sie sprach ohne schmückende Worte. Zahlen, Richtungen, die Karte mit den roten Linien, die in die Tiefe führten. Sie sagte: Vierzehn Millimeter. Sie sagte: tiefe Scherfuge. Sie sagte: drei Wochen, bis mindestens die obere Kante entlastet sein sollte. "Das ist Panikmache", rief ein Mann von hinten. Sein Hemd war kariert, sein Hals rot. "Ich habe keine Panik in den Daten", sagte Leila. "Ich habe Bewegung." "Und meine Mutter?" Eine Frau mittleren Alters stand auf. Ihr Blick war nicht aggressiv, nur scharf. "Wird sie wieder ausgegraben?" "Wir sprechen von einer Umsetzung, die wir so würdevoll wie möglich gestalten", antwortete Maja, bevor Leila den Mund öffnen konnte. "Das ist nicht einfach. Aber wir können nicht warten, bis der Hang entscheidet." Der Raum summte. Noé zeichnete das Summen als feine Punkte. Reto stand hinten, neben der Tür, die Ledermappe an die Seite gedrückt, als wolle er sie in der Wand versenken. Er bemerkte, wie seine linke Hand den Rand fixierte, als hielte er ein Tier fest, das springen wollte. In seinem Kopf öffnete sich ein Sprung, der in das Jahr 1998 führte. Damals war er so alt gewesen wie Noé. Er erinnerte sich an den Geruch der Erde an einem kalten Herbsttag, an Männer, die die Mütze zogen, und an eine Entscheidung, die nicht die seine gewesen war und die er Jahre später doch zu seiner gemacht hatte, als er die Register übernahm. Ein Name war versetzt worden, aus Güte, hatte man gesagt. Aus Güte. "Wir müssen doch nicht alle umstellen", sagte eine ältere Frau in der vorderen Reihe, die Hände um einen Stock. "Nur die ganz oben. Mein Mann liegt unten, beim großen Ahorn." "Die Gefahr nimmt nicht nur von oben nach unten ab", erklärte Leila ruhig. "Die Scherung verläuft im Bogen. Sie sehen hier..." Sie tippte auf die Karte, der Bogen lag wie eine Klammer unter dem Gelände. "Und wer bezahlt?" "Der Kanton beteiligt sich", sagte Maja. "Die Gemeinde übernimmt einen Teil. Wir haben die Kosten transparent aufgelistet. Darüber stimmen wir unter Traktandum drei ab. Heute bitten wir zunächst um die Zustimmung zur Verlegung des Friedhofs an einen sicheren Ort. Ich weiß, was wir damit verlangen." "Der Friedhof ist unser Gedächtnis", sagte jemand. Es klang nicht wie ein Gegenargument, eher wie ein Satz, der irgendwo abgelegt werden musste. "Unser Gedächtnis wandert mit", sagte Maja. "Aber der Ort kann nicht bleiben." Noé zeichnete eine Linie vom Wort Gedächtnis zur Kapellentür, dann eine von der Kapellentür zu einem Namen: Hannelore. Er kannte Hannelores Enkelin, sie trug immer gelbe Schuhe. Daneben schrieb er: Wind. Er hatte begonnen, Geräusche als Konturen zu zeichnen. Die Debatte verließ die Worte und wurde zu Händen. Maja erklärte die Modalitäten der Abstimmung. Wer zustimme, möge die Hand heben. Es war ein Moment, der gleichzeitig wog und leicht war, weil es nur eine Geste war. Und dennoch veränderte dieser kleine Schwarm von Fingern und Handflächen den Plan des Dorfes. Die Mehrheit war deutlich, nicht einstimmig. "Danke", sagte Maja, und in ihrem Dank lag keine Erleichterung, nur die Feststellung der Richtung. "Wir gehen nun zu Traktandum zwei: Grundstücksfrage für den neuen Friedhof. Die Kommission hat eine Fläche nördlich der Schule vorgeschlagen. Wir sprechen über Zugänglichkeit, Bodenbeschaffenheit und Gestaltung. Herr Qamar, Sie werden später, wenn es so weit ist, Wege anlegen und Bäume setzen. Heute bitte ich Sie um Ihre Einschätzung zur Pflege." Qamar stand auf, die Hände ruhig. Er sprach über Stauden, die tiefe Wurzeln haben und doch leicht sind. Über Wege, die breit genug für die Schwelle beim Gehen sind. Er benutzte Worte, die leise klangen. Noé zeichnete kleine Kreise, wo Qamar von Bänken sprach. Draußen stand ein Reporter, der wartete. Drinnen lief die Verwaltung wie ein Uhrwerk, das Maja aufziehen musste und das doch bei jeder Windung mahnte, was ihm fehlte: die Garantie, dass Uhren Berge halten. Als die Sitzung endete, bewegten sich die Menschen nicht in einem Strom, sondern in kleinen Paaren und Dreiergruppen. Es waren keine Gegner und Sieger, es waren Nachbarn, die das Licht im Flur teilten. Reto blieb als Letzter und hob die Stühle. Er tat das, weil es etwas zu tun war, das man tun konnte, ohne zu sprechen. Danach trug er die Ledermappe über die Straße in sein kleines Büro am Rand des Gemeindehofs. Ein Raum, der roch wie Papier, das man öfter anfasst. Auf dem Schreibtisch stand ein Bildschirm, daneben eine alte Schreibmaschine, die nie ganz weggeräumt worden war. Er öffnete die Mappe. Auf dem Deckblatt stand in sauberer, alter Schrift: Register, Feld A bis D, Stand: 2002. Davor, quer, lag ein Ausdruck: Digitalisierung 2010. Die beiden Systeme kannten sich, aber sie mochten einander nicht. Er blätterte zu Feld B, Reihe 4. Dort blieb er, wie man an einem Fenster bleibt, wenn draußen jemand vorbeigeht, den man erkennen könnte. Die Nummern folgten einander, wie sie sollten, bis Nummer 16. Dann stand da ein Name, der da nicht stand, wenn man die Familiengeschichte im Kopf ablief, wie Reto sie manchmal nachts tat. Der Name war richtig geschrieben. Er lag nur einen Platz versetzt. Er hatte ihn dort belassen, als er vor Jahren übernommen hatte, mit dem stillen Argument, dass es einer Frau ein paar Tränen erspart hatte. Jetzt spürte er, wie das Argument dünn wurde, wenn ein Hang einen Plan wollte. Er druckte die Seite aus und legte sie neben den Ausdruck der digitalen Tabelle. Auf dem Bildschirm blinkte der Cursor in einem leeren Feld. Er hätte eine Notiz schreiben können. Für Maja. Für die Kommission. Für die Akte. Er legte den Finger auf die Taste N. Ließ ihn wieder los. Es gab Fristen für vieles, die für Mut waren unklarer. Als der Abend am Hang ankam, ging Noé noch einmal zur Kapelle. Seine Mutter glaubte, er sei bei Luca. Er ging leicht am Seil entlang, als wäre es ein Freund. Qamar war noch da, eine Gießkanne neben dem Schuh. "Zeichnest du noch?" fragte Qamar, ohne aufzusehen. "Ich mache eine Karte", sagte Noé. "Nicht von den Wegen. Von der Ruhe." "Und wo ist sie?" "Zwischen den Dingen. Wenn die Leute leiser werden. Wenn der Wind bläst und die Glocke nicht."> Qamar lächelte mit den Augen. "Willst du etwas wissen?" fragte er dann. "Ja." "Die Leute denken, ich setze Wege, damit ihre Füße den Boden finden. Aber oft setze ich Wege, damit ihre Blicke etwas zum Festhalten haben. Das hilft, wenn der Boden unsicher ist." Noé nickte. Er zeichnete eine Linie, die an keinem Grab entlangging, aber allen. Er setzte Kreuze, die keine Zeichen waren, sondern Atempausen. Er notierte: Qamar – Blick. Die Luft war schwer, aber die Abendkerze vor der Kapellentür flackerte nur wenig. Leila kam den Weg herunter, die Karte unter dem Arm, kurz stehen bleibend, um auf die rote Markierung neben dem Pfahl zu schauen. Sie sah Noé, den Bleistift, Qamar in der Dämmerung. "Guten Abend", sagte sie. "Guten Abend", antworteten beide. "Morgen bringe ich Sensoren", sagte Leila. "Sie werden piepen, aber nur kurz." "Sie dürfen piepen", sagte Qamar. "Die Vögel gewöhnen sich daran." Leila nickte. Sie war nicht dazu hier, Freundschaften zu schließen. Aber die Art, wie das Kind die Karte hielt, die Art, wie der Gärtner die Gießkanne hielt, rührte etwas an, das nicht in Tabellen passte. Ihr Vater hatte einmal gesagt, als sie ihn über einen Hang hatte laufen sehen: Wissenschaft ist nicht kalt. Sie formt deine Hände. Sie merkte, wie ihre Hände kalt waren und steckte sie in die Tasche. Unten im Dorf ging Licht aus, Licht an. Maja saß am Küchentisch. Vor ihr lag ein Blatt mit Überschriften: Kommunikation – Presse – Schutz der Würde. Sie schrieb Sätze, die nicht nach Schlagzeile klangen. Sie strich Wörter durch, die später gegen sie verwendet werden konnten. Sie dachte an den Mann mit dem roten Hals und an die Frau mit dem Stock. Sie dachte an den Ahorn. Sie dachte an Fristen. Sie dachte an das Register, das Reto ihr morgen zeigen wollte. Wollte er es? Oder bog sie nur schon einen Weg, damit ihr Blick etwas zum Festhalten hatte? Draußen zog ein Wind durch das Tal, der die Schindeln der Kapelle leise bewegte. Der Hang atmete. Er würde noch einmal knirschen in der Nacht, kaum hörbar. Es war genug, um einen Kiesel in Bewegung zu setzen, der morgen früh auf dem Kapellenweg liegen würde, als wäre er vom Himmel gefallen. Reto stand im Türrahmen seines Büros, das Licht aus, die Straße leer. Die Ledermappe lag auf dem Tisch wie ein Tier, das nach Futter suchen würde, sobald man den Rücken drehte. Er dachte an 1998. An eine Hand, die auf seine Schulter gelegt worden war, nicht schwer, aber bestimmend. An ein "Es ist besser so". An die Freundlichkeit, die manchmal nur eine Schicht war über einem Problem, das nicht verschwinden wollte. Er schloss die Tür ab. Morgen würde er zur Kapelle hinaufgehen und am Rand stehen, dort, wo die rote Markierung jetzt leuchtete. Er würde da sein, wenn das erste Grab geöffnet wurde. Noch nicht morgen. Bald. Und er wusste, noch bevor er den ersten Schritt tat, dass ein Name dort nicht lag, wo er stehen sollte. Unter ihm, in der Gasse, zeichnete Noé zuhause im Zimmer weiter. Er ergänzte seinen Atlas um eine Legende. Nicht Symbole, sondern Fragen: Wer entscheidet? Wer erinnert? Wer trägt? Neben die Fragen schrieb er kleine Pfeile. Einer zeigte zum Gemeindehaus. Einer zur Kapelle. Einer ins Weiß des Papiers, auf dem noch nichts stand. Die Nacht hielt das Dorf wie eine Schale, nicht zu fest, nicht zu lose. Das Licht vor der Kapelle ging aus. Der Hang blieb wach.
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