Die ersten Sekunden nach dem Abtauchen waren die stillsten. Dann sprachen die Wände. Sie knisterten, sangen in metallischem Tenor, arbeiteten gegen den Druck, der sie umklammerte wie ein stählerner Kiefer. Das Licht an der Decke flackerte kurz, als die Hades in die blau-schwarze Tiefe des östlichen Mittelmeers glitt, und die Luft roch nach Öl, Ozongeruch von frisch überprüfter Elektronik und dem säuerlichen Atem einer Mannschaft, die lernte, das Atmen zu vergessen.
Kapitänin Eva Rostova stand reglos in der Kommandosektion, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, das Kinn leicht angehoben. Die Augen—stahlgrau, sagen sie—blieben auf die Navigationsprojektion gerichtet, deren dünne Linien mit einer stoischen Unausweichlichkeit nach Südosten krochen. Ihre Stimme, als sie endlich sprach, durchtrennte die konzentrierte Stille wie eine Klinge.
„Tiefe halten. Geräuschdisziplin. Wir sind ab jetzt nur noch ein Gedanke in einer Welt, die nicht denken darf.“
Die wenigen, die am Zentralpult versammelt waren, antworteten mit knappen Bestätigungen. Sie kannte ihre Mädchen, wie die Leute oben sagten—aber oben gab es hier nicht. Hier gab es nur Stahl und Gedächtnis. Und die Gerüchte.
Isabelle Moreau, deren Rufname längst die Uniform ersetzt hatte—das Ohr—saß am Sonar und hatte den Kopf leicht geneigt, als lausche sie einer fernen Oper. Ihr Markenzeichen: die Fingerkuppen, die so behutsam über die Kante des Konsolenrahmens glitten, als könne sie das Meer auch fühlen. Ihre Lippen bewegten sich, formten lautlose Silben, während die Kopfhörer ihre Schläfen einrahmten.
„Kontakt?“ Rostovas Tonfall war nie scharf. Er war glatt. Glatt war gefährlich.
„Negativ, Kapitänin. Aber da ist… etwas. Ein Kontrast im Grundrauschen, wie ein Loch im Nebel. Sehr tief.“
Ein kaum merkliches Nicken. Das genügte. Rostova wandte sich der Navigatorin zu. Anya Petrova hatte sich in ihre eigenen Schatten zurückgezogen; ihr Bildschirm war eine private Kathedrale aus Vektoren und Zahlen. Ihre Schultern, schmal unter der grauen Wolljacke, blieben angespannt, als die Kapitänin neben sie trat.
„Die Route.“ Kein Befehl, eher ein Test.
Anya hob den Blick. Ihre Augen waren zu hell für den Raum, in dem sie lebte. „Korridor Bravo. Dann entlang des Tektonikgrabens. Weniger Strömung, mehr Deckung. Wir verlieren die NATO-Hydrophonketten… falls sie nicht nachgerüstet haben.“ Ein Hauch eines Lächelns, das nicht freundlich war. „Falls.“
„Wir improvisieren nicht, wir proben Perfektion“, sagte Rostova leise. „Sie kennen die Sätze.“
„Ich kenne die Sätze.“ Anyas Finger glitten über die Eingabe. Das Boot reagierte mit einer kaum wahrnehmbaren Drehung. Auf dem Display machte die Linie einen Bogen, der aussah wie ein Messer, das sich an eine Rippe schmiegte.
Weiter hinten, im Kernabteil, brummte eine andere Musik. Dr. Lena Richter stand vor einem länglichen, matten Zylinder, dessen Konturen ein Geheimnis aus Theorie, Rohren und ordentlichem Wahnsinn waren. Der Leviathan, wie sie ihn nannte, trug die Tugenden seiner Erschaffung: Disziplin, Schärfe, Unversöhnlichkeit. Ihre Hand ruhte auf dem kalten Metall, zärtlich und ehrfürchtig, als wäre es der Rücken eines schlafenden Tiers. Sie murmelte Zahlen. Niemand sonst verstand sie genau, aber der Klang sagte: Gebet.
„Nicht berühren, nicht atmen, nur rechnen.“ Die Stimme der Tüftlerin, die als nächstes unter ihr rangierte, schoss spitz durch den Raum. Richter erwiderte nicht, sie lächelte. „Wenn er einmal atmet, meine Liebe, dann singen alle Meere im selben Ton.“
Zwischen Kommandosektion und Reaktorraum lag ein Korridor, in dem das Metall jede Entscheidung speicherte. Isabelle war aufgestanden. Sie trat, als das Licht erneut flackerte, zu Anya, lehnte sich näher, als wäre Nähe eine andere Form von Messung.
„Deine Karten klingen falsch“, sagte sie leise, ohne die Kopfhörer abzunehmen.
Anya blinzelte, dann senkte sie den Blick wieder auf die Linien. „Karten klingen nicht.“
„Bei dir tun sie’s. Und da ist dieses Loch. Als würde jemand unter uns ein Atmen üben.“
„Ein Loch atmet nicht.“
„Manche tun es.“ Isabelle nahm die Kopfhörer ab, die Abdrücke zeichneten kurz kreisrunde Schatten an ihre Haut. Ihre Stimme sank noch tiefer. „Sie folgen ihm, Kapitänin.“
Rostova antwortete nicht sofort. Sie drehte die Uhr am Handgelenk, eine alte, militärische, deren Glas so klar war, dass es nicht hierher gehörte. „Wir testen Sonartechnologie“, sagte sie schließlich. „Wir folgen jedem Loch, jedem Atem, jedem Versprechen, solange es in der Tiefe liegt.“
Ein Blick zu Anya. „Kurs halten.“
Die Hades senkte sich weiter in den Canyon, den Anya versprochen hatte. Die Wände rückten näher; auf dem Sonar erschienen sie als bösartige Schatten, die sich bei Unachtsamkeit an Metall und Menschenfleisch schneiden würden. Die Geräuschdisziplin war nun so streng, dass selbst die Gedanken flüsterten. Und wie das so ist, wenn Gedanken flüstern: Sie werden deutlich.
Das Flüstern begann rund um das Seepferdchen. Ein Täuschkörper, sagten die Dokumente. Ein Liedermacher, sagte Isabelle. Ein dummer Witz, sagte die Tüftlerin. Dr. Richter nannte es „Unterhaltungskunst für Kriegskinder“ und hob dabei nicht die Augen. Das Seepferdchen lag in einer Andockhalterung, ein grauer Bauch voller Fantasie: absurde Walgesänge, die—so hatte man es ihnen eingebläut—feindliche Sonarketten verwirren, zur falschen Jagd locken, ihre Logik der Tiefe ausliefern würden.
Beim ersten Test hing die Luft schräg. Die Mikrophonarme wurden ausgefahren, über Drähte und Federn liefen Signale, und im flackernden Licht begannen die Lautsprecher das Meer zu beschwindeln. Ein Ton, dann zwei, dann eine Kaskade. Blasenblasen. Lachen. Das unpassende Kichern eines Kindes im Sakralraum.
„Pegelt“, sagte Isabelle, die Augen an der Skala. „Noch drei Dezibel.“
„Zwo.“ Anyas Finger hielten den Kurs.
„Eins…“
Der Schlag kam, bevor der dritte Ton sein Ende fand. Keine Explosion—eine Implosion, ein Riss in der Welt, der alles zu ergreifen schien, was luftlos war. Das Seepferdchen faltete sich in sich, als hätte jemand ihm das Innerste weggenommen. Die Halterung riss. Metall knirschte, schrie, erstickte.
In der Kommandosektion hielt niemand die Luft an; sie hatten schon nicht geatmet. Doch jetzt spürten sie den Druck wie Hände an ihren Kehlen. Ein roter Alarm fauchte, dann verstummte er wieder, lauernd. Die Halogenlampen tanzten Schatten über silberne Gesichter.
„Bericht“, sagte Rostova. Es klang weder gefragt noch verlangt. Es war ein Punkt, den jemand in die Stille setzte.
„Implosion im Täuschkörperschacht“, Isabelle, zu schnell, dann kontrolliert. „Keine externen Detonationen festgestellt. Keine Feindsignatur.“ Sie hielt inne. „Aber etwas hat…“ Die Worte rutschten ihr weg. „Es war, als hätte man ihm einen Ton aus dem Körper gezogen.“
Dr. Richter meldete sich über Interkom, ihre Stimme zitterte nicht. „Das Seepferdchen ist Geschichte. Halterung beschädigt. Ich will ein Team für die Analyse, sofort. Jemand hat an den Druckventilen gespielt. Oder etwas.“ Ein Kichern, trocken wie Staub. „Wie romantisch.“
Rostova nickte kaum sichtbar. „Sicherheit?“
Eine andere Stimme, rau, kontrolliert—die Sicherheitschefin—brach herein, doch das Interkom rauschte; die Verbindung knisterte, als trüge sie einen zweiten, geheimen Text. „Abschnitt abgeriegelt. Ich will Namen und Hände. Niemand bewegt sich ohne meine Freigabe.“
Isabelle spürte die Kälte, die in einem U-Boot nicht von der Luft kommt. Sie spürte Augen auf dem Rücken; Worte, die nicht in ihre Ohren, sondern in den Raum gesprochen wurden. Die Crew zog sich zusammen wie ein Muskel, der gleich zuschlagen würde.
Anya und Rostova standen jetzt so nah, dass nur ein Atem zwischen ihnen passte. „Kurs?“ fragte die Kapitänin.
„Unverändert“, antwortete Anya, aber ihr Blick suchte für einen Augenblick Isabelles Silhouette, als vergewissere er sich einer Wunde.
„Gut.“ Rostova trat zurück, wieder die Unberührbare, die Unantastbare. „Wir melden den Vorfall als mechanischen Unfall. Interne Untersuchung. Ab jetzt doppelter Wachdienst, verschlüsselte Kanäle nur über mich. Ich will das Boot denken hören.“
„Kapitänin“, sagte Dr. Richter erneut, leiser, als hätte sie gemerkt, dass die Luft Musik speicherte. „Der Leviathan braucht Ruhe. Wenn jemand an Ventilen fummelt, dann…“
„Dann findet die Sicherheit heraus, wer jemand ist.“ Rostova lächelte. Es war ein lächerlicher Anblick, weil nichts an diesem Lächeln lächerlich war. „Und Sie, Doktor, halten Ihr Kind bis zur Taufe trocken.“
In der Nacht—soweit sich eine Nacht unter tausend Metern Stahlwasser definieren liess—schlich ein Schatten durch den Canyon. Die Hades passte nicht in die Geografie; sie zwang die Felsen, ihr Platz zu machen. Isabelle hörte das Meer atmen. Sie hörte das Loch. Tiefer als jede Maschine. Tiefer als Schuld. Etwas, das lachte ohne Geräusch.
Sie fand Anya in einer Ecke des Kartenraums, in die nur Leute gingen, die sich unsichtbar machen wollten. Anya zeichnete Linien in das Kondenswasser auf der Stahlwand, als ließen sich Routen mit Fingerkuppen stechen.
„Sieh mich nicht so an“, sagte Anya, ohne hinzuschauen.
„Wie sehe ich dich an?“, fragte Isabelle.
„Wie jemand, der sich an eine Kante stellt und hofft, dass sie nachgibt.“
„Vielleicht ist die Kante nur eine Grenze auf Papier.“
Anya wischte die Linien weg. „Papier ist grausam. Es vergisst nur Dinge, die es nie wahrgenommen hat.“ Sie drehte sich zu Isabelle. Die Nähe war elektrisch. „Du hörst mehr als Töne. Was hörst du über mich?“
Isabelle sah eine Flut von Antworten, entschied sich für die sicherste Lüge. „Ich höre, dass du schläfst, wenn du nicht schläfst.“
Ein kurzes, trockenes Lachen. „Und über die Kapitänin?“
„Ich höre, dass sie nichts hört. Und das macht sie gefährlich.“
In diesem Moment entlud sich ein Streit drei Schotts weiter wie eine Dekompressionswelle. Erstes Offiziersquartier, Sicherheitssektion: Stimmen prallten aufeinander, Zischlaute, Befehle, das dumpfe Geräusch von etwas, das nicht fallen durfte. Rostovas Schatten war schneller als die Alarmleuchte; sie war da, bevor jemand wusste, dass sie schon gekommen war.
„Ich dulde keine Raserei“, sagte sie. „Nicht hier. Nicht jetzt.“
Die Sicherheitschefin stand mit geballter Faust, der Erste Offizier mit einem blauen Schatten am Kiefer. Niemand blutete. Noch nicht.
„Sie sabotieren uns“, keuchte die Sicherheitschefin. „Jemand ist in den Ventilschacht eingedrungen. Das ist kein Unfall.“
„Dann haben Sie jetzt die Gelegenheit, nicht zu versagen.“ Rostova trat einen Schritt näher, sprach so leise, dass nur zwei Paare Ohren es aufnahmen. „Und denken Sie daran: Loyalität ist kein Gefühl. Sie ist eine Entscheidung, die man jedes Mal trifft, wenn man atmet.“
Die Nacht hielt. Das Boot hielt. Die Menschen hielten einander aus.
Gegen Morgen—manche nannten es so, wenn die Schicht wechselt—öffnete Dr. Richter eine Datenklappe, die keine war. Sie zog einen schmalen Papierstreifen heraus, auf dem Ziffern wie kleine Ameisen liefen. Ihre Finger zitterten kurz, bevor sie sich wieder zu einer religiösen Ruhe sortierten. „Perfekt“, flüsterte sie, an niemanden adressiert. „Du wirst die Welt singen lassen.“
Im Kommandoraum lehnte sich Rostova über die Streckensequenz. Auf dem Tisch lag keine Karte, nur der Schatten einer. Anya stand gegenüber, die Hände auf dem kalten Metall, und sprach in Rätseln, die nur wie Rätsel klangen.
„Wenn wir dem Loch folgen, erreichen wir einen Punkt, der nicht auf Karten existiert. Aber etwas sendet dort. Nicht laut, nicht klar—eher wie die Erinnerung eines Funkspruchs.“
Rostova hob eine Braue. „Und wem gehört eine Erinnerung?“
„Dem, der sie festhält.“
„Oder dem, der sie löscht.“ Rostovas Blick glitt an Isabelle vorbei, die am Schott stand, als wollte sie den Raum nicht betreten, die Szene nicht stören, den Atem nicht verraten.
„Kurs halten“, entschied die Kapitänin. „Aber… langsam.“ Dieses Eine Wort hatte an Bord eine andere Bedeutung: Langsam hiess gefährlich. Langsam hiess wissend.
Das Boot bewegte sich. Die Welt bewegte sich nicht.
In einem flachen Moment, als die Anzeigen fast freundlich leuchteten, knackte das Interkom. Eine zierliche Stimme, der man die Jugend nicht anmerkte, fragte nach dem Doktor im Kernabteil. Ein Flüstern wanderte von Mund zu Mund: die Ingenieurin. Die jüngste. Zu eifrig, sagten manche; perfekt, sagte Richter, und meinte das Gegenteil. Ihre Affäre war ein offenes Geheimnis hinter geschlossenen Türen. Niemand sprach es aus, alle hörten es. Und irgendwer zog bereits Fäden.
Das Loch atmete. Isabelle hörte es jetzt nicht mehr als Ton, sondern als Pause. Eine Abwesenheit, so absolut, dass sie schmerzte. Jenseits der Tektonik, jenseits der Karten, hinter der verlogenen Sicherheit einer Aufgabe. Es war eine Richtung. Und die Hades folgte.
Bevor die Schicht endete, rief Rostova alle Schlüsselpositionen zusammen. Keine grosse Besprechung—Grosse Besprechungen machten Geräusche—ein Kreis an Schatten.
„Offiziell testen wir Sonartechnologie“, sagte sie. „Inoffiziell transportieren wir einen Prototypen, den die meisten von Ihnen nie aus der Nähe sehen werden. Unnötige Nähe zerstört Freundschaften. Und Boote.“ Ein kurzer Blick zu Richter, die ihn ungerührt aufnahm. „Was heute passiert ist, wird intern behandelt. Wir setzen die Mission fort. Wer eine andere Meinung hat, behält sie. Ich erlaube Widerspruch—wenn er mir nützt.“
Anya’s Mundwinkel zuckte, Isabelle senkte den Blick.
„Eine letzte Sache.“ Rostovas Stimme wurde weich. Das Weiche kam selten. „Loyalität ist hier eine Form von Intelligenz. Wer klug sein will, bleibt. Wer weise sein will, schweigt. Wer dumm ist, fliegt nicht—er sinkt.“
Die Runde löste sich, wie Nebel, der weiss, dass er Wasser ist. Die Flure fraßen sie wieder, jedes Schott ein Kiefer, der nur widerwillig aufschwang.
Isabelle blieb zurück. „Kapitänin?“
Rostova hielt inne.
„Wenn das Loch kein Feind ist?“
„Dann ist es ein Freund, der uns für Feinde hält.“ Rostova lächelte wieder, dieses unverständliche, diebische Lächeln. „Und am Ende ist das kein Unterschied.“
Die Hades glitt weiter, tiefer, lautlos schnaubend. Über ihnen zogen Kriegsschiffe Patrouille, träge Titanen, blind für das, was sie trugen: Gefühle, die in Stahl eingeschweisst waren, und eine Waffe, die Geschichte in Glas verwandeln konnte. Unten wartete ein Punkt, den keine Karte kannte. Zwischen beiden bewegte sich ein Boot, das nicht existieren durfte. Und in ihm Menschen, die in der Tiefe lernten, was Worte bedeuten: Befehl, Liebe, Verrat.
„Auf Lauschen.“ Rostovas Stimme, leiser als ein Gebet, hakte sich in Isabelles Nacken. „Aufs Warten. Und aufs Finden.“ Die Anzeigen erröteten. Das Meer hielt den Atem an.
Die erste Entscheidung war schon gefallen, noch bevor jemand sie bemerkte.